Home / Alben Reviews / Indie Rock / Tocotronic – Die Unendlichkeit

Tocotronic – Die Unendlichkeit

Ein Beitrag von Dagny Lack
vom

Die Idee ist gut aber… Auf „Die Unendlichkeit“, dem zwölften Studioalbum von Tocotronic, rückt die Autobiografie der Band, nun ja, eigentlich lediglich die ihres Frontsängers Dirk von Lowtzow, in den thematischen Fokus. Lyrisch wie musikalisch soll hier sein Weg aus der Freiburger „Schwarzwaldhölle“ ins Hamburg der 90er Jahre, in dem der Band der Durchbruch gelang, bis nach Berlin, Lowtzows jetziger Heimat, nachgezeichnet werden. Ein vielversprechendes Konzept, was letztendlich aber doch hinter geweckten Erwartungen zurückbleibt.

Tocotronic-2018-Michael Petersohn
© Michael Petersohn

Der erste Eindruck von „Die Unendlichkeit“ ist kein schlechter. Da ist zunächst einmal die optische Aufmachung: Ein ansprechendes schwarzweißes Sternenfirmament-Cover in Glow-in-the-dark-Optik mit typischem Tocotronic-Schriftzug und Albumtitel. Schlicht und schön but with a little twist. Die Bandfotos sind nicht sonderlich bemerkenswert, aber solide. Dirk von Lowtzow, Arne Zank, Rick McPhail und Jan Müller in stylishen grauschwarzen Outfits im kühlen Hipstersetting. Hier fällt nichts und niemand aus dem Rahmen. Doch vielleicht ist gerade das ein Problem?

Vom Klang her vielversprechend

Musikalisch verhält es sich ähnlich. Das Album beginnt vielversprechend mit dem titelgebenden Song, einer Ballade, die schwer und dunkel anfängt und sich schließlich imposant in sperrigen Gitarrenriffs entlädt. Weiter geht es mit „Tapfer und Grausam“, ein leichter qualitativer Abfall in Form einem von traurigen Orgeltönen getragenem Lied über’s Kindsein. Hierauf folgt die dritte Single „Electric Guitar“. Mit ihren lebendigen Trommelwirbeln hat sie trotz ihrer Moll-Akkorde zweifellos Hitpotential und bleibt im Ohr. „Hey Du“ nimmt tempomäßig noch mehr Fahrt auf und erinnert zeitweise tatsächlich ein wenig an 90er Perlen wie „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“ oder „Die Grenzen des guten Geschmacks 1“. Dirks Stimme klingt hier höher, als man es von den heutigen Songs gewohnt ist und man könnte fast meinen, die Band hätte ein altes Demo-Tape aufgemotzt.

Musikalisch abwechslungsreich

Während „Ich lebe in einem wilden Wirbel“ und „Bis uns das Licht vertreibt“ die verspielt-melodiösen Höhepunkte des Albums markieren, sorgen das von elektronischen Elementen, fast schon etwas an Kraftwerk-erinnernde, „1993“ und das orchestrale „Unwiederbringlich“ für abwechslungsreiche Arrangements. Zum Schluss wird es mit der erschreckend radiotauglich anmutenden Hommage an Berlin „Du hast mich gerettet“ und dem wiegenliedähnlichen „Ich würd’s dir sagen“ wieder ruhiger. „Mein Morgen“ wird von einem melancholischen Glockenspiel begleitet und mit Gitarrensoli in bester Tocotronic-Manier bäumt sich „Alles was ich immer wollte war alles“ abschließend auf.

Natürlich ist „Die Unendlichkeit“ musikalisch kein „K.O.O.K“, dazu ist es zu professionell gefällig-glatt produziert, aber es birgt Lichtblicke und hebt sich positiv von seinen Vorgängern „Wie wir leben wollen“ und dem roten Album ab. Allerdings war Tocotronic immer eine Band, die sich weniger an ihrer Musik, sondern vor allem an ihren Texten messen lassen musste und gerade in dieser Hinsicht ist „Die Unendlichkeit“ leider unendlich problematisch. Hierfür gebe ich Dirk die Schuld.

Gefangen im Elfenbeinturm

Bassist Jan hatte vor einigen Jahren in einem Interview die Bedenken geäußert, man habe sich lyrisch in einen Elfenbeinturm verstiegen und diese Überlegung wird hier zur enttäuschenden Gewissheit. Dirk verliert sich zunehmend in seinem intellektuellen Geschwurbel, welches er mit Kitsch und viel zu einfachen, plakativen Bildern paart: „Komm zu mir, ich starre Löcher in die Wand. Komm zu mir, ich leg den Kopf in Deine Hand.“ Oder auch „Ich bin Dynamit. Zünd mich an und wirf mich weg.“ Solche Verse stehen im krassen Kontrast zu den früheren Tocotronic, die mit prägnanter Simplizität so viel mehr zum Ausdruck brachten, als neue pseudo-emotionale Vielzeiler wie „Bis uns das Licht vertreibt“ es vermögen.

Tocotronic – Fernab von jeder Kritik

Auch sind die neuen Texte gänzlich kritik- und humorfrei. Natürlich müssen sich die Ansichten der Band, die sich in Interviews durchaus politisch-kritisch gibt, nicht zwangsläufig Kettcaresk in ihren Songs wiederspiegeln. Wenn sie aber über die flache Nostalgie eines alternden Mannes, der sich nach einer Zeit, in der es weder Handys noch Google gab, zurücksehnt, nicht hinausgehen, ist das ein Manko.

Auch nimmt sich die autobiografische Reflexion unerträglich ernst. Leichtigkeit, Humor oder gar ein Augenzwinkern sucht man hier vergebens. Abstrakte Wortgebilde, die vor inhaltsleeren Stilblüten nur so wimmeln, gibt es dafür zuhauf. Als Dirk singt „Alles was ich geschrieben habe, wird jetzt ausradiert“, denkt man, vielleicht wäre es tatsächlich besser so.

Die Unendlichkeit – Keine Experimente

Zusammenfassend lässt sich sagen: die Idee des autobiografischen Albums ist gut, ihre Umsetzung ist es leider nicht. Schon im ersten Song stellt sich die Frage „Ich will mich verändern, doch wie fang ich’s an?“ Diese Ratlosigkeit scheint die Platte zu durchziehen, ohne dass auf sie eine Antwort gefunden wird. Natürlich kann sich eine Band, die wie Tocotronic mehr als 25 Jahre im Musikgeschäft ist, nicht plötzlich gänzlich neu erfinden. Ebenso wenig kann die Sturm und Drang-Phase früherer Alben wiederholt werden. Aber man könnte experimentieren, es mit Authentizität versuchen, etwas wagen. Und darauf wartet man seit „Schall und Wahn“ vergebens. Dringlichkeit besteht schon lange nicht mehr. Stattdessen geht man optisch, musikalisch und textlich auf Nummer Sicher.

Ich warte auf den Tag, an dem sich Tocotronic wieder etwas trauen. Oder endlich trennen.

Video: Tocotronic – Electric Guitar

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner