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Livestreams: Konzerte in Zeiten von Corona, was die Glass Animals richtig machen

Ein Beitrag von Hannah
vom

Immer mehr Künstler verkaufen inzwischen Tickets für virtuelle Livestream-Konzerte, die Fans ganz Corona-konform vom heimischen Sofa aus anschauen können. Auch wenn es kein Ersatz für das echte Offline-Konzert-Erlebnis ist, können Künstler und Fans von dem neuen Modell profitieren – wenn sie es denn richtig angehen. Die britischen Indie-Rocker Glass Animals haben vorgelegt und bei ihrer Show „Live in the Internet“ vieles richtig gemacht.

Glass Animals Live in the Internet
Bild aus: Glass Animals Live in The Internet

Sagen wir, wie’s ist: Die Live-Industrie steht derzeit vor ihrer größten Herausforderung aller Zeiten. Seit über einem halben Jahr finden weltweit keine (oder nur stark reduzierte) Konzerte statt – und ein Ende dieser katastrophalen Durststrecke ist noch lange nicht in Sicht. Nicht nur wir Fans vermissen Live-Konzerte sehnlichst, sondern leiden auch die Künstler massiv unter Situation. Wahrscheinlich fallen für mindestens ein Jahr die Einnahmen aus der eigentlichen Haupteinnahmequelle komplett aus. Mehr dazu hier bei Herzmukke.

Es ist also verständlich, dass im Corona-Jahr 2020 ein Modell aufkommt, bei dem Live-Konzerte kurzerhand von der Halle ins Internet verlegt werden. Statt Eintrittskarten verkauft man jetzt Zugangscodes für Streaming-Events. Immer mehr Künstler gehen diesen Weg – und verlangen teils horrende Summen für ihre Performances.

Von der Halle ins Internet: Das bedeuten Livestreams für die Musikbranche

Klar: Es ist ein relativ einfacher und kostenarmer Weg, um richtig viel Geld einzusammeln. Während die Kapazität einer Halle limitiert ist, können im Livestream unendlich viele Fans teilnehmen. Weltweit. Dazu ist es auch noch eine perfekte Chance für Publicity, um Platten und Merch zu vermarkten, Fan-Service zu betreiben und – wortwörtlich – einfach auf der Bildfläche zu bleiben.

Immer mehr Musiker gehen also diesen Weg der bezahlten Live-Streams: Melanie C, Future Islands, Mika, IDLES und eben die Glass Animals, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Ticket-Plattform Ticketmaster hat inzwischen sogar eine eigene Seite nur für Streaming-Tickets eingerichtet, auf der von Pop-Stars wie Sam Smith über avantgardistische Nischen-Bands wie GoGo Penguin bis hin zu Musical- und Ballett-Shows alles Mögliche zu finden ist.

Und das Modell scheint aufzugehen: Die K-Pop-Stars BTS haben zuletzt mit ihrem Stream Anfang Oktober absurde 44 Millionen Dollar Umsatz eingefahren, umgerechnet ca. 37,5 Millionen Euro mit knapp einer Millionen Tickets. Billie Eilish verkauft ihre Streaming-Tickets für stolze 30 US-Dollar. James Bay bietet gar VIP-Streaming-Pakete für bis zu 205 Euro an. Die besagten Glass Animals haben mit ihrem Stream allein in der ersten Verkaufswoche über 10.000 Tickets zwischen 13,50 und 27,50 Euro verkauft. Die finalen Verkaufszahlen sind nicht bekannt, aber eines ist klar: „This has turned into our biggest headline show ever”, erklärt die Band stolz auf Facebook.

Der Rubel dürfte also wieder rollen für die Künstler. Doch was bringt es am Ende den Fans? Die ernüchternde Antwort ist leider oft: Nicht viel.

Bezahlen für Livestreams? – Warum Fans zurecht zögern.

Wir leben in einer Welt, in der wir nahezu unendlich viele Live-Auftritte von unseren Lieblingskünstlern auf YouTube, Facebook, Instagram und Co. aufrufen können, und zwar vom völlig verwackelten Handy-Video aus dem Publikum über intime Selfie-Videos aus dem Wohnzimmer der Künstler bis hin zu hochwertig produzierten Aufnahmen von Festivals oder Fernsehshows. Das Internet bietet alles. Jederzeit. Kostenlos.

Und wir erinnern uns: Im März und April, zur Hochphase des Lockdowns, haben genau diese Künstler, die jetzt Geld für Streaming-Tickets verlangen, ihren Live-Content freiwillig und gratis oder auf Spendenbasis ins Netz gestellt. Stars wie Charli XCX, Awolnation, Michael Bublé und Miley Cyrus haben gar täglich live gestreamt. Unter dem Titel #TogetherAtHome riefen viele Weltstars mit Live-Videos aus den eigenen vier Wänden zum Zuhausebleiben auf. Und ja, auch die Glass Animals haben mit ihren „Quarantine Covers“ zur Massenflut der Livestreams beigetragen. Wieso also jetzt zahlen für etwas, was wir jederzeit kostenlos haben können?

Ein Stream auf dem Sofa kann das wahre Konzert-Erlebnis nicht ersetzen. Die Atmosphäre auf einer Show, im Guten wie im Schlechten, lässt sich einfach nicht einfangen. Der Lärm, das Gedränge, der Geruch von Schweiß und Rauch, die Spannung in der Luft, das Gefühl, umringt zu sein von Gleichgesinnten und gemeinsam etwas zu erleben, das nur ein einziges Mal auf der Welt passiert, nur im Hier und Jetzt. Das ist Live. Kein Mensch braucht wirklich das hundertste Live-Video von seinem Lieblingsact, wie er die ollen Kamellen aus dem Wohnzimmer heraus trällert. Zumindest nicht gegen Geld.

So geht’s: „Glass Animals Live in the Internet: A One-Off Audiovisual experience“

Die Glass Animals haben das verstanden und zaubern kurzerhand aus dem Livestream etwas hervor, was bisher viel zu wenige Künstler hervorzaubern konnten, und zwar: echten Mehrwert. Bandleader und Rampensau Dave Bayley postet vor ihrem Konzert am 15. Oktober:

Bringing this level of energy to the internet TOMORROW. but with….new crazy visuals. new songs. special guests!!!! and weird interactive stuff only the internet can make happen. plus no one tall can stand in front of you this time. VERY excited.

Das Motto: Wenn man das Offline-Live-Erlebnis schon nicht reproduzieren kann, dann sollte man zumindest die Vorteile von Online bis auf die Knochen ausschlachten. Und hier machen die Glass Animals sehr vieles richtig! Einen großen Minuspunkt gibt es zwar für die massiven technischen Schwierigkeiten, aber das war schnell verziehen, sobald der Stream dann endlich reibungslos lief. Die knapp eineinhalbstündige Show war pure Unterhaltung und bot alles, was man sich nur wünschen kann: Ein Strudel aus abwechslungsreichen Settings, verrückten visuellen Animationen, ungewöhnliche Kamera-Perspektiven, einen Chat-Room, eine Pineapple-Discokugel, interaktive QR-Codes zum Mitmachen, ein integriertes Live-Zoom-Meeting mit Fans, Live-Votings, Dave Bayles hyperaktive Bühnen-Energie, Gast-Auftritte von anderen Musikern, der flauschigste Pulli aller Zeiten und – was auch sonst? – eine gigantische Piñata in Mandarinen-Form. You name it, they got it. Die Musik gerät da fast schon in den Hintergrund. Aber das ist ok, denn die ist auf Platte eh besser. Dafür braucht man keinen Livestream.

Ich muss sagen: Ich war schon mehrmals bei „echten“ Glass-Animals-Konzerten. Die Glass Animals sind eine fantastische Live-Band und ich freue mich schon jetzt unendlich auf die kommende Tour 2021, die hoffentlich wieder stattfinden darf. Am Ende fühlte sich „Live in the Internet“ natürlich nicht so an wie früher. Und immer, wenn die wilde, bunte Glitzer-Show eines Songs endete und statt einer jubelnden und tobenden Menge nichts als Stille zu hören war, wurde ich schmerzlichst daran erinnert, was anders ist und was niemals im Internet ersetzt werden kann. Aber ganz ehrlich: Als ich da mit meinen Freunden mit Corona-tauglichen Abstand im Wohnzimmer saß, Pizza-essend und Rotwein-schlürfend, quatschend und gespannt zuschauend, war das trotz allem das nächste zu einem Konzert-Erlebnis, was ich in den letzten Monaten hatte. Und eine wunderbare Möglichkeit zur Überbrückung der Live-Durststrecke.

Wenn andere Bands und Künstler sich hier eine Scheibe abschneiden und auch endlich verstehen, wie sie diese ganz besondere Live-Magie in dieses sehr unmagische Massenmedium Internet einpflanzen können, dann haben zahlungspflichte Livestream-Konzerte eine Zukunft. Dann haben sie einen nachhaltigen Mehrwert, sowohl für die für Künstler, als auch für die Fans.

Und wer weiß, vielleicht sogar auch noch nach Corona.

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