Tocotronic haben jüngst die Single „Nie wieder Krieg“ samt dazugehörigen Video veröffentlicht. Das gleichnamige Album* soll am 28.01.22 folgen und mit „Lieder(n) über allgemeine Verwundbarkeit, seelische Zerrissenheit und existenzielles Ausgeliefertsein (…) über Einsamkeit und Angst, aber auch über Träume und Liebe“ aufwarten. Wir trafen eine Hälfte der Band in Berlin.
Im Pressetext zum neuen Album wurde gesagt, dass ihr das erste Mal seit vielen Jahren sechs der Songs live eingespielt habt und auch live Vocals aufgenommen habt, was, so heißt es da weiter, eine Herausforderung war. Warum habt ihr euch dafür entschieden, das so zu machen, also euch der Herausforderung zu stellen?
Jan Müller: Wir haben ja seit 2005 – seit dem Album Pure Vernunft Darf Niemals Siegen – den gleichen Produzenten, Moses Schneider, und dessen Spezialität ist die Live-Aufnahme. Und nachdem wir das vorige Album, das sogenannte Weiße Album, fast gar nicht live aufgenommen haben, haben wir eigentlich seit dem Album Pure Vernunft auf diese Art mit Moses gearbeitet, bis zum sogenannten roten Album, was gar nicht live aufgenommen wurde. Die Unendlichkeit auch nicht. Wir haben das so ein bisschen mit Moses zusammen erarbeitet, weil das „nicht-live“ Aufnehmen auch gewisse Freiheiten gibt. Man kann mehr machen, man kann mehr experimentieren. Und das war für diesen poppigen Ansatz des roten Albums und den sehr vielfältigen Ansatz von Die Unendlichkeit sehr gut geeignet. Und jetzt haben wir uns für eine Mischform entschieden. Da sind auch noch die anderen Lieder, die eben nicht live aufgenommen wurden. Und direkt live mit Vocals aufzunehmen, das war eigentlich eine Idee von Moses Schneider, der meinte „ja, wenn schon, denn schon – dann auch gleich mit Gesang!“
Man muss es sich ja auch ein bisschen spannend machen und das haben wir dann probiert und das ist natürlich vor allen Dingen für Dirk eine Herausforderung gewesen. Aber das macht auch was beim Spielen. Das schafft ein anderes Spielgefühl.
Das Album fühlt sich auf jeden Fall sehr dynamisch an. Hattet ihr euch das auch so vorgenommen? Also war das die Vision, die ihr schon als, ihr anfingt zu schreiben, hattet?
Arne Zank: Vielleicht nicht direkt beim Schreiben, aber, ich weiß gar nicht, ob ich das sagen kann, aber Moses hat auch mal zu uns gesagt „Wir machen uns das so einfach wie möglich“ und diesmal haben wir geschaut, wie es am meisten Spaß macht. So wie Jan erzählt hat, haben wir so beide Seiten, also das live aufnehmen und das Click Track aufnehmen und Idee war schon, das irgendwie halbe-halbe aufzuteilen. Deswegen haben wir dann geguckt, was passt zu welchem Stück und wie macht es am meisten Spaß. Wir haben uns keinen strengen Rahmen mehr gegeben, sondern eher geguckt, wie man mit den Sachen am schönsten Spielen kann.
Vieles ergibt sich auch. Zum Beispiel der Song „Hoffnung“ war zuerst geplant als Live Song und als wir dann aber dann zusammen arrangiert hatten und Moses im Proberaum war, meinte er gleich „Nee, aber das muss auf jeden Fall mit Klick aufgenommen werden.“
Das war dann auch ganz schön, denn dadurch war „Hoffnung“ sehr früh fertig und wir konnten den, so fängt man mal bisschen an das Schicksal zu glauben, in dieser ersten Pandemiewelle als unseren Corona Song ganz früh veröffentlichen. In einer anderen Version, als er jetzt auf dem Album ist. So hat es sich ergeben, dass es vielfältig geworden ist. Das ist natürlich ganz schön und vielleicht auch so ein bisschen ein Anspruch, den wir mittlerweile ein Album haben.
Sind die Songs also über einen größeren Zeitraum entstanden?
JM: Die kamen, glaube ich, schon ziemlich stramm nacheinander. Eigentlich wie immer, es gibt so eine Art Songwriting Zeit, wo Dirk auch ziemlich schnell schon Demos aufgenommen hat bei Moses Schneider. Das Album sollte eigentlich schon im letzten Jahr erscheinen und dann kam die Pandemie. Das hat uns allen nicht gutgetan, aber dem Album hat‘s gut getan. Weil wir einfach mehr Zeit hatten, daran zu arbeiten und auch Dinge reifen zu lassen. Und das ist das einzig Gute, was ich an dieser ganzen Pandemie finden kann, ist, dass sie unserem Album gutgetan hat. Vielleicht kann man auch ganz allgemein feststellen, dass vieles entstanden ist, auch bei anderen Menschen, was sonst nicht entstanden wäre, weil sie mehr Zeit hatten.
Ich habe die Frage gestellt, weil ich finde, dass das Album in sich sehr schlüssig klingt, was wiederum zu einem anderen Hinweis aus dem Pressetext passt, nämlich „wenn man das Album in einem Rutsch durchhört, dann hat man das Gefühl, es mit einem Roman oder einem Film zu tun zu haben“.
JM: Nee, genau, dass es nicht nur ein Sammelsurium von Stücken. Das ist eigentlich schon auch so Dirks Arbeiten und unser Arbeiten, dass, wie Arne sagt, die Stücke ziemlich nah beieinander entstehen und sich auch aufeinander beziehen. Weil es sich herausgestellt hat, dass das gut funktioniert für uns. Und das zeigt eben auch, dass das Format Album – was ja schon so oft totgesagt wurde – nicht nur bei uns, sondern bei vielen anderen Bands und Künstlerinnen und Künstlern notwendig ist, um noch einen Schritt weiter zu gehen.
Also hattet ihr während der Entstehung des Albums dann auch genau diesen Effekt im Sinn, dass es in sich schlüssig wird und eine Geschichte erzählt?
AZ: Das wünscht man sich natürlich. Das ist, finde ich auch das Tolle an einem Album. Man kann einzelne Stücke rausnehmen und sie sind dann auch kein Rätsel. Aber wenn Menschen sich die Zeit nehmen, das durchzuhören, und das erlebe ich auch selber oft bei Alben anderer Künstlerinnen und Künstler, dass man dann doch einen Mehrwert hat.
Stichwort Film oder Roman: ich hatte dann natürlich gleich die Frage, ob „Nie Wieder Krieg“ vielleicht mit einem existierenden Roman oder Film verglichen werden kann?
JM: Da fällt mir spontan keiner ein, aber das Genre wäre Tragikomödie, weil die Texte handeln viel von Verletzlichkeit und Einsamkeit. Aber es gibt natürlich auch sehr witzige Momente wie in dem Stück „Ich Hasse Es Hier“, wo der Erzähler eine Pizza aufpeppen will.
Gerade in der Spannung zwischen dem Text und dem Musikalischen hat man auf Nie Wieder Krieg viel Positives und viel Optimistisches, was irgendwie so einen Schub nach vorne bringt.
JM: Ja, wir haben uns viel darüber unterhalten, ob das optimistisch oder pessimistisch ist.
Im Endeffekt ist das Gefühl, was es bei mir hinterlässt, dann doch eher optimistisch. Das würde ich mir auch wünschen, aber es schont einen auch nicht. Gerade so was wie der Opener, das Stück „Nie Wieder Krieg.“ Das ist ein Stück voller Gegensätze. Eigentlich ist der Text sehr traurig, finde ich, aber es hat eine sehr feierliche Musik und das ist das Schöne an Musik, dass die einen auch erheben kann, auch wenn es nicht nur über Friede, Freude, Eierkuchen geht.
AZ: Diese Spannung hat uns auf jeden Fall auch immer gereizt, zwischen Text und Musik. Also immer in das dialektische Andere denken, mit Text oder Musik. Es muss dann eben grade heiter sein, oder grade tragisch werden. Dadurch entsteht auch eine Lebendigkeit, wo sich noch etwas entwickeln kann beim Hören. Anders, als wenn jetzt ganz klar ist: da ist jemand verlassen worden, und der ist traurig und spielt ein trauriges Lied.
Und woher kam die Entscheidung, dass es jetzt Zeit für ein neues Tocotronic Album ist?
JM: Also wir sind in der glücklichen Situation, dass Dirk, der ja unser Songschreiber ist – und das gestaltet sich eigentlich immer gleich – während wir noch das letzte Album auf Tour bespielen, soweit ist, dass er schon die ersten Stücke geschrieben hat. Da wissen wir „Ah, es geht wieder los“. Es ist eher so, dass wir uns immer zwingen mussten, mal eine Pause zu nehmen. Denn der innere Drang ist immer da. Es macht auch einfach Spaß!
AZ: Irgendwie hat man auch so’n bisschen eine Routine in diesem eigentlich sehr dramatischen Wechsel der Phasen und Jahreszeiten, die in so einem Musikleben stecken. Deswegen denkt man sofort weiter, also die Tour geht zu Ende und man überlegt „Was kommt denn dann?“
JM: Es gibt Genrebands, da ist klar „wir haben diesen Sound und müssen jetzt weiterhin möglichst gut unser Genre ausfüllen“. Das ist bei uns anders, wir gehen schon durch viele Phasen und fragen uns, ob es noch zeitgemäß ist, jetzt diese Art von Musik zu machen. Bisher war die Antwort immer „Ja“. Aber der Aufwand, um unseren Ansprüchen da gerecht zu werden, wird schon intensiver und ich bin gespannt, wie das weiter geht. Diesmal hatten wir ja diese, ich nenn’s jetzt Mal „geschenkte Zeit“ durch die Pandemie, aber es wird nicht einfacher, ein Album zu machen, je mehr Alben man bereits gemacht hat, finde ich. Man hat nie ein Rezept.
Das neue Album vereint so ein bisschen die Schokoladenseiten eurer Anfangszeit mit neuen Facetten, die sich gar nicht so klar benennen lassen. Welche Einflüsse hattet ihr denn, während Nie Wieder Krieg entstand?
JM: Ich finde es inzwischen sehr schwierig, das abzugrenzen. Ganz ehrlich, früher, als wir angefangen haben, da war klar „Wir finden Dinosaur Jr. und Pavement gut, dann finden wir ein paar Hamburger Sachen gut“ und dann tun wir das in unseren Mixer und dann kommt da im besten Fall was Neues und Eigenes bei raus. Jetzt könnte ich nicht einfach sagen, „das sind Vorbilder“. Das meine ich vielleicht auch damit, wenn ich sage, ein Album zu schreiben wird nicht einfacher. Wir haben uns schon vor einer Weile davon verabschiedet, Musik so zu machen, dass sie ein bisschen „klingt wie“ . . . . Das würde uns inzwischen, glaube ich, auch einfach nicht mehr befriedigen.
„Nie wieder Krieg“ kann hier* vorbestellt werden. Im Frühjahr gehen Tocotronic auf Deutschlandtour.