Morgen wird wie heute sein – Tocotronic live in Hamburg

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Gleich drei Abende hintereinander geben sich Tocotronic die Ehre in der Stadt, in der vor mehr als 25 Jahren alles begann. Was nach unendlichem Spaß klingt, entpuppt sich als eine Reise in die Vergangenheit, von der schließlich nichts außer Sentimentalität und Nostalgie als Erinnerungen zurückbleiben.

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© Anja Oestreich

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© Anja Oestreich

Als Tocotronic am Freitagabend, begleitet von den Klängen von Sergej Prokofjews Rittertanz, die Bühne der traditionsreichen Großen Freiheit 36 mitten im Herzen von St. Pauli betreten, leuchtet hinter ihnen ein azurblaues Himmelszelt mit funkelndem Sternenfirmament verheißungsvoll auf. Blau ist auch die Trainingsjacke, derer sich Frontmann Dirk von Lowtzow, kaum auf der Bühne angelangt, sofort entledigt, indem er sie achtlos in eine Ecke wirft. Trotz dieser Koketterie mit dem vermeintlichen früheren Markenzeichen der Band, kann auch dieses modische Relikt nicht darüber hinwegtäuschen, dass seit dem Debütalbum Digital Ist Besser mehr als zwei Jahrzehnte vergangen sind. Bis auf Jan Forever Young Müller sind die Tocotronic-Mitglieder deutlich älter geworden. Gezeichnet vom natürlichen Lauf der Zeit, der sich an diesem Abend auch in den zahlreichen graumelierten Schöpfen ihrer Anhänger wiederspiegelt.

Tocotronic – 25 Jahre später

Welten liegen ebenfalls zwischen den musikalischen Entwicklungsstadien der Band. Während das Publikum beim Opener Die Unendlichkeit und dem darauffolgenden Electric Guitar, beides Werke vom neuesten Toco-Album, noch nicht ganz sicher zu sein scheint, wie es zu diesen steht, ist beim dritten Song Let There Be Rock, Glanzstück vom heißgeliebten K.O.O.K. alles entschieden. Kein Halten mehr bei der überwiegend aus Ü-Vierzigern bestehenden Menge.

Tocotronic sind weise und halten sich mit Drüben auf dem Hügel, Kapitulation und Wie wir leben wollen erstmal in vertrauten Gewässern auf, bevor sie den Fans mit Ich lebe in einem wilden Wirbel einen weiteren Neuzugang in ihrem Repertoire präsentieren.

Dirk mutiert zum gutgelaunten Rebel Boy

Dirk scheint an diesem Abend fest entschlossen, die Tatsache, dass das neue Album lyrisch eher persönlich als politisch geprägt ist, wett machen zu wollen: Er wirkt ungewöhnlich aufgekratzt, erinnert an den ersten Auftritt der Band im Keller der berüchtigten Roten Flora und erhebt Aber hier leben, nein danke kurzerhand zur antinationalistischen Hymne („So, und jetzt denken wir alle noch mal an die AfD…“), zu der er immer wieder die Faust in die Luft reckt. Eine rebellische Protest-Geste, die leider so gar nicht mehr zu ihm passen will. Wütend-trotzig geht es mit dem zum „Rachesong“ erklärten Hey Du, einer Abrechnung mit „all den Anglotzern“ die Kleinstadtdirk als Jugendlicher das Leben zur (Schwarzwald)Hölle gemacht haben, weiter.

Ich mag dich einfach nicht mehr so

Dann noch This Boy Is Tocotronic, das neue Unwiederbringlich, solo von Dirk auf der Akustikklampfe dargeboten, gefolgt von Sag Alles Ab und dem Leckerbissen Das Geschenk, der sämtliche Tocotronic-Fanherzen noch einmal höherschlagen lässt und schon gibt es die erste Zugabe. „Hi Freaks, look at me“ singt Dirk und während man das tut ist es irgendwie, als ob man einer verflossenen Liebe begegnet: ein wenig schimmert durch den grauhaarigen Schlacks im weißen T-Shirt immer noch die Person durch, die man einst so toll fand; man erinnert sich an die gemeinsame Zeit, in der alles noch so anders, weil nämlich viel dringender, erschien und merkt trotzdem, dass man sich irgendwie auseinanderdividiert hat und inzwischen nicht nur älter geworden, sondern auch in verschiedenen Realitäten unterwegs ist. Und als die Band sich mit der vorletzten Zugabe sehnsüchtig-melancholisch an einen Sommer, der schon fast ein Jahr her ist, erinnert, scheint es, als ginge es Tocotronic genauso.

Tocotronic – Zurück in die Vergangenheit

Nichtsdestotrotz wirkt das Publikum zufrieden: Erleichtert darüber, dass die, während der gesamten Tour bisher immer gleiche Setlist nicht allzu viel vom neuen Album, dafür genug ältere Perlen aufzuweisen hatte. „Hamburg, Große Freiheit! Ihr wart ein energetisches, wundervolles, aufmerksames, elegantes Publikum!“, beschwört Dirk zum Schluss die Masse, bevor er mit den Worten „Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse…“ Freiburg, den ersten Song vom allerersten Tocotronic-Album, anstimmt. Genauso, wie er es die zwei darauffolgenden Abende noch einmal tun wird. Danach klaubt er unter tosendem Beifall die blaue Trainingsjacke vom Boden auf und schlüpft hinein, ehe er gefolgt von Jan, Arne und Rick die Bühne verlässt.

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